3. Projektbericht 2024

Nach der Aufregung am Wochenende ist der Montag erstmal ein ruhiger Tag. Nachdem ich die Kinder auf dem Schulweg begleitet habe – ‚half way‘, wie auch letztes Jahr, den Anstieg vor der Schule spare ich mir – komme ich zurück ins Kinderhaus und trinke meinen Tee mit Kami, draußen in der Sonne. Dann sagt sie ‚Picture Bakhu?‘ Ich habe mir ja eine Bakhu, also ein traditionelles Kleid aus der Gegend hier, schneidern lassen, aus leuchtend rotem Seidenstoff, und wir wollten ein Foto machen, mit mir in Bakhu. Aus irgendeinem Grund amüsiert es alle Nepali zutiefst, dass ich nun stolze Besitzerin dieser Tracht bin, und ein Foto mit mir in Tracht ist heiß begehrt. Also springe ich in mein Zimmer und versuche, mich anzuziehen, das ist gar nicht so einfach. Das Kleid wird innen gebunden, außen geknöpft, dann geschnürt, hinten kommt eine Filzschürze drüber, die von einem eng gewickelten Wollgürtel fixiert und schließlich mit einem Schmuckgürtel aus Messing mithilfe von zwei sehr spitzen Haken gehalten wird. Filzschürze und Wollgürtel habe ich letztes Jahr schon als Abschiedsgeschenk von Kami erhalten und dieses Jahr wieder mitgebracht, jetzt habe ich alles auf dem Bett ausgebreitet und mühe mich etwas ab, aber irgendwie komme ich doch überall rein und kann es ordnungsgemäß schließen. Ich laufe wieder runter, zuerst zu Pasang, meiner Wirtin. Die freut sich sehr, als sie mich in Tracht sieht, und kommt sofort für ein Foto aus ihrer Küche. Dawa biegt um die Ecke, strahlt mich an und findet, das sieht gut aus so. Ich drücke ihm mein Handy in die Hand, einer muss ja die Fotos machen. Nach Pasang gehe ich runter zu Kami und Pasang 2, Dawa im Schlepptau. Für die Fotos. Kami guckt mich kritisch an, dann verschwindet sie. Ich schaue Dawa an ‚Not good??‘ Er schaut bemüht freundlich ‚Well, Simone – your head‘. Ja, ich habe keine Kopfbedeckung, will die aber auch nicht. Läuse sind hier die fast am weitesten verbreiteten Haustiere… Kami kommt wieder mit einem Tuch, das ich mir um den Kopf binden soll. Auf der anderen Talseite, bei den Tamang, haben die Frauen wenigstens einen schön bestickten Hut auf, bei uns tragen Frauen Kopftuch. Ich füge mich, ich möchte Kami nicht verletzen, finde aber, das Tuch gibt mir ein ziemlich trutschiges Aussehen. Ich find’s echt doof. Allerdings stehe ich mich meiner Meinung alleine da, jetzt erst gucken Dawa und Kami sehr zufrieden. ‚Now I can find you a good Nepali husband, you look great!‘ Ja, danke, will ich nicht. Aber das Foto machen wir, ich find’s toll, mit Kami und Pasang 2, und haben wirklich Spaß. Ich bleibe noch ein wenig in Bakhu, und alle Nachbarn, die vorbeischauen, sind völlig aus dem Häuschen, dass ‚die Weiße‘ doch tatsächlich Bakhu trägt. Kommt wohl nicht so oft vor.

Am nächsten Tag fahre ich mit Pramod nach Dhunche, wir möchten auch hier mal bei der Schule nachhören, wie sie dort aufgestellt sind. Außerdem findet Pramod, meine Kinder brauchen Taschentücher, er hat Recht. Also sitze ich wieder auf dem Motorrad (ach Mensch, ja, ich musste mich schon sehr überwinden 😉 ) und fahren nach Dhunche. Noch ist das Wetter wirklich gut, und wieder sehe ich den Langtang Lirung kurz vor Tibet mit seinen schneebedeckten 7000m aufragen. Es ist hier schon wirklich ausgesprochen schön. Das langgezogene Tal Richtung Norden bietet immer wieder Ausblicke, die mich sehr tief berühren.

In Dhunche angekommen parken wir das Motorrad – und gehen erstmal was essen. Das ist ja hier in Nepal wirklich wichtig und ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt. ‚If in doubt, have a meal‘, oder so. Danach gehen wir zur lokalen Secondary School, die im Gegensatz zu Syaphru Besi bis zur 12. Klasse, also dem hiesigen Abitur geht. Dhunche ist ja Bezirkshauptstadt, entsprechend ist es eine wenige ländliche Schule als bei uns im Tal, die weitläufigen Grünflächen fehlen, aber die Kinder schwätzen, rennen und lachen genauso wild durcheinander wie bei uns auch. Der Direktor erzählt mir ein wenig, auch diese Schule hat nicht mehr ganz so viele Kinder wie früher einmal. Dawa hatte mir erklärt, dass sich die Familienstruktur hier ähnlich ändert, wie es bei uns in den 50er Jahren der Fall war: Eltern haben zunehmend 1-2 Kinder, anstatt 5-10 Kinder, da sie versuchen, die schulische Ausbildung für ihren Nachwuchs zu gewährleisten. Hat man viele Kinder ist dies schier unmöglich, bei einer geringen Anzahl kann man es vielleicht noch schaffen. Und so kämpfen alle Schulen mit dem Problem der kleiner werdenden Schülerzahlen. Ich überlege mit Dawa, ob es dann überhaupt langfristig Sinn macht, ein Kinderhaus zu betreiben? Ja, macht es. Zum einen betrifft das eben Genannte eher Familien, die es aus eigenen Mitteln schaffen, ihre Kinder auszubilden, zum anderen gibt es allein im oberen, nördlichen Teil des Tals, also bei uns, zwischen 300 und 600 als ‚arm‘ eingestufte Kinder. Und für diese Kinder gibt es ca 50 staatliche finanzierte Schulplätze, bei denen die Eltern weder für Schulmaterial und Uniform, noch für die Unterbringung bezahlen müssen. Also bleibt da doch eine ganze Menge für uns zu tun!

 

Die Fahrt nach Dhunche war sehr informativ, wir schaffen es, gleichzeitig mit den Kindern wieder in Khamjing zu sein. Ich habe kurz Zeit, mich etwas zu regenerieren, dann spiele ich mit den Kindern und freue mich, dass diese 15 nicht durch’s Raster gefallen sind sondern zur Schule gehen! Abends fragt Dawa mich, ob ich nach Nagthali möchte am Mittwoch? Donnerstag ist ja mein Abschlussessen, Freitag fahren wir nach Kathmandu, Samstag geht mein Flug. Ja, Frank hatte Nagthali mehrfach erwähnt, es soll dort sehr schön sein. ‚Is it very steep, Dawa?‘ ‚No, it’s Nepali flat, don’t worry. We will go tomorrow morning and be back in the evening.‘ Hm, aha, ich weiß ja nicht. Was ich gehört habe ist Nagthali doch etwas weiter, und ich kenne Dawas Zeiteinschätzungen mittlerweile recht gut. Schon in Deutschland habe mich mir für diese Fälle einen kleinen Ziploc Beutel mit meiner Notfallausrüstung zusammengestellt: Zahnbürste und kleine Zahnpasta, ein kleines Deo und – ich trage Kontaktlinsen, die nachts raus müssen – eine kleine Kochsalzlösung und Döschen zur Aufbewahrung. Das packe ich am nächsten Morgen ein, außerdem den Hüttenschlafsack, wer weiß, wo ich so lande. ‚You only need small backpack, only waterbottle!‘ Ja. Und mein Notfallpack. ‚We will leave at 9am‘ Dann soll ich doch noch die Kinder zur Schule bringen, 10h reicht dicke. Und um 10h fängt Kami an zu kochen, wir kommen so kurz nach 11h los. Um 18h wird’s dunkel. Pramod sagte, man fährt ca. 3 Stunden bis zum Parkplatz, ab da läuft man nochmal 45min (ich verdopple diese Zeitangabe, ich bin kein Nepali). Das ganze mal 2 – wir wollen ja zurück kommen – da bin ich bei 9 Stunden. Als wir aufbrechen vergewissere ich mich, dass mein Ziploc Beutel in meinem kleinen (!) Rucksack ist und freue mich auf die Fahrt. Es geht den Berg runter, auf der anderen Seite wieder hoch, wir biegen dann rechts ab und ich erkenne alles wieder. ‚This is where we bought the chicken last year, right? And this is the home from Sarmila! This is where we visited her family!‘. Schließlich halten wir nach ca 2h an. Hier wohnen die Eltern von Priya, 2. Klasse. Ich freue mich, sie wieder zu sehen, und gehe runter zu ihrem Haus. ‚And now?‘ ‚Just say hello‘ Es ist fast 13h, im Leben sagen wir nicht einfach nur Hallo. Und da kommt auch schon die Frage, ob ich Hunger habe, Priyas Mutter möchte mir gerne ein Dal Bhat machen. Ich schaue Dawa an, ob er Hunger hat? Och nö, außerdem wurde ich ja gefragt, ihm ist das sehr egal. ‚OK, sure. No, thanks Dear, I am not hungry, just a tea and we can go, no lunch needed.‘ Dawa schaut ganz entsetzt und ich muss lachen! Natürlich hat er Hunger, und wir haben hier auch nicht zufällig angehalten, er hat hier eine kalkulierte Mittagspause eingelegt. Also schaue ich Priyas Mutter an, die von unserem englischen Gespräch nichts verstanden hat, nicke und bedanke mich für die Einladung. Dawa ist erleichtert.

Als wir auf dem Parkplatz ankommen, um vor dem letzten Fußmarsch das Motorrad zu parken, ist es nach 15h. They have Snickers and Red Bull for you, I will just get something. Just in case, you know….‘ Immernoch heißt es, dass wir abends ja wieder daheim sind. Ja, genau. Also laufen wir langsam den Berg hoch, Nagthali liegt auf über 3100m. Und heute ist der erste Tag in 2,5 Wochen, in denen es nicht strahlend-blauen Himmel hat. Wir laufen durch den aufziehenden Nebel immer höher, und irgendwann platzt mir der Kragen. ‚Dawa, you know I am wearing contact lenses, I can not stay somewhere overnight without my stuff. You know that!!‘ ‚oh‘ Ich weiß nicht, ob ich lachen oder ihn von der Klippe stoßen soll, natürlich schaffen wir es heute nicht mehr heim, das war seit Khamjing klar. ‚So, what do we do now??‘ ‚Oh‘. Ich fange an, loszuschimpfen, schaffe es aber nicht, dabei ernst zu bleiben. Ich erzähle ihm von meinem Beutel und lachend laufen wir weiter. Ich habe gelernt, dass ich hier immer besser vorbereitet bin, dann gibt es kein Drama. Und Dawa will mir ja was Gutes, wäre das Wetter schön, könnten wir jetzt bis nach Tibet gucken. So sind es vielleicht 50m, und es ist richtig kalt, als wir oben ankommen. Wir sind die Einzigen.

Die Gaststube wird erst geheizt, als wir ankommen, ich krieche erstmal ins Bett, komplett angezogen, nehme mir die 2. Bettdecke, und friere 2 Stunden lang. Dann stehe ich wieder auf und gehe zurück in die Gaststube, die langsam ein wenig wärmer wird, wir sitzen am Feuer, trinken Tee und reden sehr viel. Auch letztes Jahr hatte ich das Glück, abseits von den alltäglichen Verpflichtungen einen Abend mit Dawa zu verbringen, dabei hat er mir sehr viel über das Leben in Nepal erzählt und ich habe ein wenig mehr verstanden. Auch diese Mal ist das so, und als der Ofen es endlich geschafft hat, die Kälte zu vertreiben, lerne ich noch sehr viel. Nach einiger Zeit hole ich mir noch eine 3. Decke und gehe ins Bett.

Am nächsten Morgen klopft Dawa sehr früh ‚Get up, the sun is shining!‘ Und tatsächlich, auf der anderen Seite ist der Langtang Lirung zu sehen, der Himmel ist blau und ich sehe die einzigartige Kulisse dieses Hochplateaus. Nur über Tibet hängen schon die Wolken, schade. Nach einem schnellen Tee laufen wir eine Runde, und ich freue mich sehr, dass Dawa mich hierher gebracht hat, es ist wirklich schön. Zwischen einem Rhododendron-Wäldchen und einer Dzo-Herde genieße ich die Ausblicke auf den Ganesh Himal, bevor es zurück geht für ein Frühstück. Danach steigen wir wieder ab, langsam zieht sich auch der Himmel wieder zu.

Auf der Rückfahrt passen uns mehrfach Mütter mit Kindern ab, die sie zu uns in die Schule schicken möchten. Nach bekanntem Muster ‚Mother says she is 8 years old‘ ‚No, she is not, she has not lost a singel milk tooth yet. Next year‘

Als wir zurück in Khamjing sind wird es für mich Zeit, die Koffer zu packen. Eigentlich möchte ich das gar nicht, außerdem gibt es noch so viel zu tun! Nach einem Meeting mit Dawa und Pramod, dass die nächsten Schritte nochmal zusammenfasst, gehe ich zu Kami in die Küche, die mit Pasang 2 und drei Mädchen schon angefangen hat, Momos zu formen. 3kg Fleisch, das ist ein riesiger Topf voll, und es kommt ja immer nur ein Teelöffel voll in ein Momo. Wir sitzen einige Zeit dran! Schließlich sind wir fast fertig und ich möchte mich schnell umziehen, heute Abend werde ich meine Bakhu anziehen. Als ich zurück in der Küche sitzen alle Kinder schon am Platz, Tashi und Pasang sind gekommen, außerdem Freunde. Die Küche ist echt voll und es gibt ein Raunen und begeisterten Beifall, als ich in Bakhu, mit allem Zubehör und Kopftuch (…) erscheine. Zuerst essen wir, die Kinder lieben die Momos, dann tanzen sie für mich, es gibt Kuchen. Ich sehe mich um und bin sehr dankbar für die bedingungslose Akzeptanz, die mir diese Menschen hier entgegenbringen. Sie lassen mich ihn ihr Leben, obwohl ich sicherlich viele Fehler mache und so anders bin. Und ich versuche, von ihnen zu lernen.

Der Abschied am nächsten Tag fällt mir sehr schwer. Die größte Herausforderung ist es, nicht zu weinen, als die Kinder alle um mich herumstehen und mich noch einmal anfassen möchten, noch einen Kuss, noch einmal drücken. Ich schaffe es. Fast. Schließlich bedeute ich Pramod, dass er jetzt wirklich gehen muss mit meinen Kindern. Er versteht und sammelt sich alle ein, ich drehe mich um und muss mich erstmal sammeln. Für mich geht es jetzt den Berg runter, über Dhunche und Trishuli nach Kathmandu. Wir brauchen noch ein paar Ersatzteile für Dawas Motorrad, die besorgen wir während der Mittagspause in Trishuli, es soll ca 1h dauern, bis alles zusammengestellt ist. Wir sind vor 13h hier und gehen essen. Als wir zurück sind ist weit und breit niemand zu sehen, dann hören wir, dass nicht alles vorrätig ist, und kurz bei der nächsten Werkstatt in Nuwakot besorgt wird. Naja, wir sind in Nepal, und so verlassen wir um kurz vor 18h die Werkstatt, haben aber alles eingepackt. Im Dunklen kommen wir in Kathmandu an, und es ist wieder laut und staubig. Dawa holt mich am nächsten Morgen im Hotel ab, um mich zum Flughafen zu bringen, wir haben beide nicht sehr viel geschlafen. Nach einer sehr herzlichen Verabschiedung und dem Versprechen, dass wir uns nächstes Jahr Mustang ansehen werden, stehe ich also in der Warteschlange für den Flug Richtung Doha, um dann nach Frankfurt weiterzufliegen. Ich hatte 3 tolle Wochen bei Freunden, bei meinen Kindern, in den Bergen, und bin wieder dankbar für alles, was ich erlebt habe. Als kleine Revanche habe ich etwas beim Fortkommen des Projektes geholfen, habe Tränen getrocknet und Ideen gesammelt. Ich stehe in der Schlange und werde versuchen, mir Nepal mit in den deutschen Alltag zu nehmen, mir die Gelassenheit zu bewahren und die Zuneigung nicht zu vergessen, die mir hier von allen Seiten entgegenschlägt, in einem vergessenen Bergdorf, einer Remote Area in Nepal. Namaste, und bis nächstes Jahr!